Von Sandra Köktas
Aktualisiert am July 5, 2024
Obwohl sie beide zur Schweiz gehören, könnten die französische und die deutsche Schweiz unterschiedlicher nicht sein. Nicht nur die Sprache trennt sie:. In der Romandie ist man sich der eigenen Identität gegenüber den Schweizern jenseits des Röstigrabens durchaus bewusst. Über welche Kantone aber erstreckt sich eigentlich die französische Schweiz, was hat die Entwicklung dieser Region geprägt, und spricht man dort wirklich Französisch wie der größere Nachbar? Ein näherer Blick zeigt schnell, dass die französische Schweiz weder französisch noch ein einheitliches Gegenbild gegenüber dem deutschen oder anderen Teilen der Schweiz ist. Vielmehr ist die Suisse Romande selbst von regionalen und lokalen Unterschieden geprägt. Typisch Schweiz eben.
Gleich vier Amtssprachen kennt das kleine Alpenland: Schweizerdeutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch. Der Begriff “französische Schweiz” bezieht sich auf den französischsprachigen Teil des Alpenlandes. Dieser ist bei den Schweizern selbst auch als Romandie (Suisse romande) beziehungsweise als “welsche Schweiz” oder “Welschland” bekannt. Die Bezeichnung “Westschweiz” gibt einen Eindruck davon, in welchen Teilen des Landes vorwiegend Französisch gesprochen wird. Zur französischen Schweiz gehören die Kantone Genf, Jura, Neuenburg und Waadt. Auch die französischsprachigen Teile der zweisprachigen Kantone Bern (nämlich Biel/Bienne und das Berner Jura), Freiburg und Wallis (Unterwallis) gehören dazu. Das zeigt bereits, dass die “Trennlinie” keine politische oder verwaltungstechnische ist. Der sogenannte “Röstigraben” zwischen der französischen und der deutschen Schweiz zieht lediglich eine Grenze zwischen Sprachgemeinschaften.
Die sprachliche Vielfalt der Schweiz hat sich durch die Nähe zu den jeweils angrenzenden Ländern Deutschland, Frankreich und Italien ergeben. Und auch kulturell zeigen die sprachlich verschiedenen Teile der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine gewisse Nähe zu den geografischen Nachbarn. Kein Wunder also, dass die Schweizer selbst die Unterschiede wahrnehmen – ein unterhaltsames Beispiel dafür ist Peter Luisis Komödie “Bon Schuur Ticino”. Auch kulinarisch lässt sich die französische Schweiz genießen, zum Beispiel (und trotz des wenig appetitlichen Namens) mit dem aus dem Wallis stammenden Gericht Cholera. Die Schweiz wäre allerdings nicht die Schweiz, wenn sich die charakteristische Vielfalt nicht auch hier bis auf einzelne Regionen und sogar Orte erstrecken würde. So ist das Welschland bei genauerer Betrachtung keineswegs eine kulturelle Einheit. Als besonders prägend für Geschichte und Identität hat sich der Einfluss der Religion erwiesen. Ebenso wie in der Deutschschweiz gibt es auch in der französischen Schweiz katholische und protestantisch geprägte Gebiete.
Die Romandie kann auf einige einflussreiche Geistesgrößen zurückblicken. Johannes Calvin floh vor der französischen Protestantenverfolgung nach Genf und machte dieses zu seinem Wirkzentrum. Jean-Jacques Rousseau ist ein Sohn derselben Stadt, Voltaire ließ sich zunächst in der Region Genf und später in Lausanne nieder. Der Kreis um Germaine de Staël zog Geistesgrößen aus der ganzen Welt an, darunter Lord Byron und John William Polidori. Während eines Aufenthalts mit den Shelleys am Genfer See entstand Mary Shelleys Roman “Frankenstein”. Aber auch Schriftsteller der französischen Schweiz haben es zu literarischem Weltruhm gebracht, darunter Charles-Ferdinand Ramuz, Blaise Cendrars, Albert Cohen und Philippe Jaccottet.
In der französischen Schweiz spricht man – wie der Name schon verrät – vor allem Französisch. Anders als das Schweizerdeutsche im Vergleich zum Hochdeutschen ist das Französisch der Schweizer dem Standardfranzösisch aus dem Französischkurs sehr ähnlich. Heutzutage bestehen die sprachlichen Eigentümlichkeiten der Romandie vor allem im Gebrauch von Archaismen, also altertümlichen Wörtern, und Germanismen. Diese sind Wörter, die von den deutschsprachigen Nachbarn übernommen wurden – wie “Witz” – oder von dort ihren Weg ins welsche Französisch gefunden haben, wie poutzer statt “putzen”. Vor allem im Gebrauch der Zahlen zeigt sich eine Besonderheit in den Formen für siebzig (septante statt soixante-dix) und neunzig (nontante statt quatre-vingt-dix), teilweise auch für achtzig (huitante für quatre-vingts).
Tatsächlich war die französische Schweiz zu früheren Zeiten nicht so französisch wie man heute den Eindruck hat. Denn die ursprüngliche Alltagssprache der Romandie war das sogenannte “Patois”. Bei diesem handelt es sich um Varianten des Französischen, die sich in unterschiedlicher Form am ehesten in den Randgebieten der frankophonen Welt, etwa auf Jamaika, erhalten haben. In der Schweiz bezeichnet Patois einen frankoprovenzialischen Dialekt, der früher fast in der ganzen Romandie – mit Ausnahme des Jura – gesprochen wurde. Heute ist er nahezu ausgestorben. Als Muttersprache kennt ihn nur noch eine kleine Minderheit im Wallis.
Die Romandie ist der französischsprachige Teil der Schweiz. Dabei hat dieser gegenüber dem französischen Nachbarn ebenso wie im Vergleich etwa zur Deutschschweiz einen ganz eigenen kulturellen Charakter. Der ergibt sich nicht nur aus der historischen Entwicklung, sondern auch durch die sprachlichen Eigenarten. Bevor durch Calvins Bibelübersetzungen und später Rundfunk und Fernsehen das Standardfranzösisch seinen Siegeszug antrat, sprach man im größten Teil der welschen Schweiz Patois. Heute erinnern fast nur noch altertümliche Wendungen und deutsche Lehnwörter an die besondere Situation der Romandie.
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